Die Oper ist eine seltsame Kunst. Keine andere Kunstform bezieht sich so stark auf ihre eigene Vergangenheit, schöpft so sehr aus einem Kanon überlieferter Werke.
Eine Handvoll Komponisten bestimmen heute die Spielpläne, neue Stücke schaffen es so gut wie nie – oder nur mit Verzögerung von einigen Jahrzehnten – in dieses Kern-Repertoire. Ihre Verächter halten die Oper deshalb für überlebt. Damit unterschätzen sie aber, welche Kraft es freisetzt, scheinbar bekannte Werke immer wieder zur Diskussion zu stellen. Die Figuren der bekannten Opern werden zu Archetypen, an deren Fortleben und immer neuer Gestalt wir erkennen können, wie die Gesellschaft und ihre Themen sich wandeln. Der Blick von heute auf das Gestern ist möglicherweise der, in dem sich die Gegenwart am deutlichsten erklärt. Wie wir das Vergangene bewerten, macht unseren eigenen Standpunkt sichtbar.
Das gilt nicht nur für die Kunst, sondern genauso für die Politik, die Philosophie, für gesellschaftliche und technologische Entwicklungen.
Trotzdem dürfen wir uns nicht auf den Kanon verlassen. Wir müssen ihn erweitern: durch die Wiederentdeckung alter Werke wie „Talestri“ der Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis, oder dadurch, dass wir den Raum für neue Stücke wie Anno Schreiers „Turing“ schaffen. Ob diese Werke im Repertoire bleiben, können wir ebenso wenig vorhersagen, wie es zu seiner Zeit das Publikum der Uraufführungen der „Frau ohne Schatten“, des „Figaro“ oder des „Falstaff“ konnte. Aber sie gehören zu unserem Verständnis der Oper als dauernder Arbeit an der Gegenwart.
Ihr Jens-Daniel Herzog
Staatsintendant und Operndirektor

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